Reisen im Schengenraum sind einfach geworden. Oft merkt man gar nicht mehr, dass man eine Grenze überschreitet: kein Kontrollblick eines Grenzbeamten, kein Stempel in den Pass. Moderne Grenzen werden zunehmend digitaler, Smart Borders arbeiten längst mit biometrischen Daten.
In seinem aktuellen Buch „Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“ zeigt Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität in Berlin, aber auch die Kehrseite dieser Entwicklung. Während sich für die einen Türen automatisch wie im Kaufhaus öffnen, werden Grenzen für andere unüberwindlicher und gefährlicher. Am 13. Juni hielt Mau zu diesem Thema im Rahmen der Akademievorlesungen eine Karl Popper Lecture im Sitzungssaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).
Gleichzeitigkeit von Offenen und geschlossenen Grenzen
Auf Social Media sieht man digitale Nomaden, die rund um den Globus arbeiten, als ob es keine Grenzen mehr gäbe. Wie einseitig ist dieses Bild?
Steffen Mau: Natürlich gibt es Menschen, für die Mobilität zum Alltag gehört, die sich relativ frei von staatlicher Kontrolle bewegen können. Gleichzeitig gewinnen Grenzen als Barrieren und Raumtrenner an Bedeutung. Die Globalisierung hat nicht nur Grenzöffnungen mit sich gebracht, sondern auch Grenzschließungen, nicht nur Mobilität, sondern auch Immobilität. Meine These ist, dass diese beiden Aspekte eng zusammengehören.
Die Globalisierung hat nicht nur Grenzöffnungen mit sich gebracht, sondern auch Grenzschließungen."
Welchen Entwicklungen beobachten Sie?
Mau: Wir denken ja immer, dass sich 1989 die Mauer geöffnet hat und die Welt durchlässiger geworden ist. Aber tatsächlich hatten wir weniger harte Grenzen in den 1970er- und 1980er-Jahren als heute. Damals waren fünf Prozent aller Grenzen weltweit Mauergrenzen – heute sind es 20 Prozent. Über 80 Grenzen sind mit Stacheldraht und durch Betonwerk gesichert. Wir haben fast wöchentlich Nachrichten von neuen Grenzen, etwa zwischen Polen und Belarus oder zwischen Finnland und Russland.
MODERNE GRENZEN SIND NICHT AN TERRITORIEN GEBUNDEN
Es gibt also eine große Ungleichheit, wer sich frei bewegen kann und wer nicht?
Mau: Die Grenzen sortieren zwischen gewollten und ungewollten mobilen Personen. Wir konnten mit unseren Untersuchungen zeigen, dass Visumsbefreiungsprogramme eine Erfindung der Nachkriegszeit waren. Beginnend mit den 1950er-Jahren hat man nach und nach Menschen aus wohlhabenden, demokratischen Ländern pauschal visumbefreit. Seit den 1970er-Jahren bis heute konnten Menschen aus dem Globalen Norden ihre Möglichkeiten Grenzen zu überqueren massiv expandieren. Deutlich verschlechtert hat sich die Lage hingegen für Menschen aus afrikanischen Ländern. Für sie war es in den 1960er- und 1970er-Jahren leichter nach Europa zu kommen als heute im Zeitalter der Globalisierung.
Es gibt eine Grenze vor der Grenze. Grenzkontrolle wandert an die Außengrenze der EU, nach Nordafrika oder sogar in die Subsahara."
Wie sehen moderne Grenzen aus?
Mau: Die Grenzkontrolle findet nicht immer nur da statt, wo der Grenzverlauf ist. Es gibt eine Grenze vor der Grenze. Grenzkontrolle wandert an die Außengrenze der EU, nach Nordafrika oder sogar in die Subsahara. Grenzen werden zu Sortiermaschinen. Für die einen werden sie immer bedeutungsloser – sie funktionieren wie eine automatische Tür eines Kaufhauses –, für andere werden sie unüberwindlicher, sogar tödlicher. Nach Schätzungen sind seit 2014 rund 20.000 Menschen an der europäischen Mittelmeergrenze ums Leben gekommen. Zugleich ist diese für Tourist:innen und willkommene Reisende leicht zu überfliegen.
DIE GRENZE DER ZUKUNFT IST DIGITAL
Welche Rolle spielt Technologie?
Mau: Wir sprechen von Smart Borders, also digitalisierten Grenzen. Unter der Grenze liegen riesige Datensammlungen – über biometrische Erfassung, Gesichtsvermessung, einen elektronischen Fingerabdruck oder Iris-Scan kann die Grenze eindeutig feststellen, wer sie sind. Je stärker diese technologische Aufrüstung voranschreitet, desto weniger brauchen wir mitgeführte Dokumente. Manche sprechen schon heute von Face-Passports: Unser Gesicht kann zu unserem Ausweis werden.
Manche sprechen schon heute von Face-Passports: Unser Gesicht kann zu unserem Ausweis werden."
Wie fehleranfällig ist dieses System?
Mau: Es gibt eine Verlagerung der Entscheidungen auf Algorithmen, und da kennen wir die Fehlerquote nicht genau. Diese Systeme sind wenig transparent, sie nutzen große Datenmengen, die wir nicht kontrollieren können. Da kann es durchaus passieren, dass sie an einer Grenze abgewiesen werden und gar nicht wissen, warum. Donald Trump hat in seiner Regierungszeit forciert, Daten aus Facebook oder Tik Tok zum Teil eines Ratings der Vertrauenswürdigkeit zu machen. Jemand, der Dinge gepostet hat, die nicht opportun waren, hat kein Visum bekommen. Je stärker die Digitalisierung zulegt, desto mehr Möglichkeiten gibt es, Mobilität zu beschränken.